Antisemitische Einstellungen werden von Personen unterschiedlicher Extremismusbereiche vertreten und verbreitet. Der im April 2021 bundesweit eingerichtete Phänomenbereich „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ bildet hierbei keine Ausnahme. Antisemitische Äußerungen, Codes und Symboliken sind innerhalb und außerhalb von Protestveranstaltungen zu finden und tragen dazu bei, historisch gewachsene Stereotype in Verbindung mit Jüdinnen und Juden aufrecht zu erhalten, die letztendlich auch immer wieder in verbalen und körperlichen Angriffen münden.
Verwendung von „Ungeimpft“-Zeichen im Corona-Protestgeschehen
Auf Corona-Protestveranstaltungen können immer wieder Demonstrationsteilnehmerinnen und -teilnehmer festgestellt werden, die einen auf der Kleidung angebrachten „Judenstern“ mit der Aufschrift „Ungeimpft“ tragen oder Plakate mit der Aufschrift „Impfen macht frei“ verwenden und so die Verbrechen des Nationalsozialismus relativieren. Der „Judenstern“ ist ein von den Nationalsozialisten eingeführtes und an den religiösen Davidstern angelehntes Symbol, das Menschen jüdischen Glaubens oder jüdischer Herkunft als solche erkennbar machen sollte. Entsprechende Symboliken tauchen auch in Form von Aufklebern, Zetteln oder Plakaten an öffentlichen Orten auf. Im Dezember 2021 beispielsweise wurde eine Aktion in Bruchsal im Landkreis Karlsruhe bekannt, bei der an mehreren Schaufenstern Zettel mit „Judensternen“ sowie der Aufschrift „Ungeimpfte sind hier unerwünscht“ angeklebt wurden. Bei einer Demonstration zwei Tage zuvor wurden in der Stadt bereits zehn Demonstrierende mit „Ungeimpft“-Sternen festgestellt.
Personen, die sich einer solchen Symbolik bedienen, stellen sich als Opfer eines „Unrechtsregimes“ dar und instrumentalisieren damit das Leid und die Verfolgung der Jüdinnen und Juden zu Zeiten des Nationalsozialismus, um ihrer Ablehnung der staatlichen Maßnahmen auf unverhältnismäßige Weise Ausdruck zu verleihen. Zwar kann hierbei argumentiert werden, dass „lediglich“ die empfundene Ausgrenzung durch Gesellschaft oder Politik betont werden soll, zugleich strahlen diese Verhaltensweisen insbesondere gegenüber Menschen jüdischen Glaubens aber eine erhebliche Geringschätzung aus, was den Antisemitismus befördert oder unterstützt.
Direkte und unterschwellige antisemitische Äußerungen
Regelmäßig fallen Rednerinnen und Redner auf Corona-Protestveranstaltungen mit Vergleichen der Bundesregierung mit dem nationalsozialistischen Regime oder anderen Unrechtsregimen auf. Auch wenn sich beispielsweise die Initiative „Querdenken 711“ immer wieder durch ihren Gründer Michael BALLWEG vordergründig von Antisemitismus und Extremismus distanziert, werden in diesem Zusammenhang einschlägig bekannte Extremisten als Redner oder prominente Teilnehmer immer wieder auf den Demonstrationen zugelassen.
Antisemitismus wird hierbei oftmals in codierter Form kommuniziert, beispielsweise über Begriffe wie „Großkapital“, „Hochfinanz“ oder Bezüge zu jüdisch-stämmigen Personen als dämonisierte Feindbilder. Diese sprachliche „Tarnung“ antisemitischer Inhalte kann einerseits als Versuch betrachtet werden, Strafverfolgungsmaßnahmen zu entgehen, andererseits dürfte diese Form bei nichtextremistischen Protestteilnehmerinnen und -teilnehmern wesentlich anschlussfähiger sein als offen geäußerter Judenhass. „Eingeweihte“ verstehen die stereotypen Andeutungen aber problemlos. Diese Art der Kommunikation ist auch als dog-whistle („Hundepfeife“) bekannt und stellt ein wirksames Instrument im extremistischen Austausch dar.
Angehörige des Milieus der „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ greifen die Corona-Thematik ebenfalls auf und verschicken Schreiben vor allem an staatliche Stellen, in denen Kritik an den Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie mit antisemitischen Deutungsmustern verknüpft wird. So bezeichnen sie die Impfung als „größten Menschenversuch in der Geschichte“ und nehmen Bezug auf den Nürnberger Kodex, um die heutigen Maßnahmen der Bundesregierung gegen die Corona-Pandemie mit den Verbrechen des historischen Nationalsozialismus, insbesondere gegen Jüdinnen und Juden, in Verbindung zu bringen. Der Nürnberger Kodex beschreibt die zentralen ethischen Richtlinien in Bezug auf die Vorbereitung und Durchführung medizinischer und psychologischer Experimente an Menschen. Er wurde nach dem zweiten Weltkrieg als Reaktion auf Menschenversuche im Nationalsozialismus eingeführt.
Auch wenn der Vergleich den Antisemitismus in vielen Fällen wohl nicht beabsichtigt, so wurde und wird genau dieser ausgestrahlt. Die Gleichsetzung der politischen Verhältnisse in Deutschland mit Unrechtsregimen beschränkt sich allerdings nicht auf die NS-Diktatur, sondern beinhaltet auch Vergleiche mit anderen Unrechtsregimen, wie der ehemaligen „Deutschen Demokratischen Republik“ (DDR). Der hauptsächliche Zweck solcher Vergleiche dürfte die Maximierung des Feindbildes Staat sein, was in erheblicher Weise die im Protestgeschehen verbreiteten Widerstandserzählungen stützt und befördert. Sinnbildlich hierfür stehen beispielsweise die Selbstvergleiche von Protest-Rednerinnen mit der NS-Widerstandskämpferin Sophie Scholl oder dem Holocaust-Opfer Anne Frank. Auf eine solche Weise wird eine vermeintlich notwendige Gegenwehr gegen die als (faschistische) Diktatur wahrgenommene Bundesrepublik und ihre Vertreterinnen und Vertreter „legitimiert“. Es besteht die Gefahr, dass hierdurch einzelne Personen oder Gruppen aus dem Protestgeschehen heraus motiviert werden, sich – auch auf gewalttätige Weise – gegen den Staat zu „wehren“.
Antisemitismus in Verschwörungsideologien
Antisemitismus wird – nicht nur innerhalb des Corona-Protestgeschehens – häufig durch Verschwörungsideologien transportiert. Auffällig wurde hier bereits zu Beginn des Demonstrationsgeschehens die 2017 in den USA entstandene „QAnon“-Verschwörungserzählung, der zufolge im Hintergrund agierende „Eliten“ u.a. Kinder entführen und foltern sollen, um aus deren Blut ein Verjüngungsmittel zu gewinnen. Es handelt sich hierbei im Kern um eine leicht abgewandelte Version der Ritualmordlegende, einer seit Jahrhunderten verbreiteten antisemitischen Erzählung. Des Weiteren beinhaltet die Verschwörungserzählung klassische antisemitische Feindbilder und Codes wie die jüdische Bankiersfamilie „Rothschild“. Bezüge zu „QAnon“ wurden beispielsweise durch „Querdenken“-Akteure in Form von Slogans oder Bezugnahmen selbst auf Demonstrationen und im kommunikativen Umfeld verbreitet, wodurch diese sich auch die antisemitischen Inhalte zu eigen machten.
Bei der Verbreitung extremistischer, also staatsfeindlicher und antisemitischer Verschwörungsideologien, kommt extremistischen Multiplikatoren eine besondere Rolle zu. Sie üben die Funktion von Sammelstellen für unterschiedliche ideologische Ausrichtungen und als Orientierungsfiguren einer (politischen) „Gegenbewegung“ aus. Dies verleiht ihnen eine hohe Deutungs- und Steuerungsmacht. Beispiele für solche Multiplikatoren sind die prominenten Verschwörungsideologen Attila HILDMANN und Xavier NAIDOO. Sie nutzen ihre Bekanntheit inzwischen hauptsächlich dazu, Verschwörungsideologien und antisemitische Inhalte zu verbreiten.
Fazit
Antisemitismus ist insbesondere durch Diktaturvergleiche innerhalb des Protestgeschehens sowie der im Umfeld stattfindenden Kommunikation allgegenwärtig. Es wird fortlaufend der Eindruck vermittelt, die in Deutschland getroffenen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie stünden auf einer Stufe mit den Verbrechen des Nationalsozialismus. Solche Inhalte werden in diesem Zusammenhang hauptsächlich durch Akteure der „Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates“ sowie durch „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ verbreitet.
Ein weiterer hervorzuhebender Aspekt sind die im Protestgeschehen verbreiteten, sehr anschlussfähigen Verschwörungsideologien, die im Kern zumeist antisemitisch sind oder entsprechende Sichtweisen mindestens andeuten.
Antisemitische Stereotype werden meistens in Sprachbildern „versteckt“, die die historisch gewachsene Ablehnung gegenüber Jüdinnen und Juden aufrechterhalten und immer wieder in Form verbaler und körperlicher Angriffe sichtbar werden.
Das Narrativ zahlreicher Impfgegnerinnen und -gegner, Opfer eines diktatorischen Regimes und mit den Opfern der Nationalsozialisten gleichzusetzen zu sein, kombiniert die Instrumentalisierung jener Opfer mit einer Widerstandshaltung gegen den Staat, aus der letztlich auch eine ausgeprägte Staatsfeindlichkeit entstehen kann.