Am 22. April 2021 hat der Prozess im sogenannten RAZ/MIEZE-Fall vor dem Stuttgarter Landgericht begonnen. Zwei Angeklagten wird vorgeworfen, unter anderem einen Brandsatz an der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg angebracht und zeitlich gestaffelt bundesweit Drohschreiben an Verantwortungsträger in Politik, Verwaltung und Justiz versandt zu haben. Zu den Empfängern zählten auch Personen aus Baden-Württemberg, unter anderem Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Da die beiden Angeklagten durch Bezüge zu linksextremistischen Vereinigungen auffielen und sich in Internetbeiträgen mehrfach einschlägiger Ideologien bedient hatten, wurde der Fall auch im linksextremistischen Spektrum aufgegriffen. Im Zuge dessen kam es zu Solidaritätsbekundungen: Mehrere linksextremistische Akteure, unter anderem das „Netzwerk Freiheit für alle politischen Gefangenen“, brachten ihre Unterstützung für die Angeklagten und deren mutmaßliches Vergehen zum Ausdruck.
Auf der überwiegend von Linksextremisten genutzten Internetplattform „de.indymedia.org“ hat das antiimperialistische
„Netzwerk Freiheit für alle politischen Gefangenen“ nun bekanntgegeben, dass es die Solidaritätsarbeit für die
beiden Angeklagten einstellt. Als Grund hierfür verweist das Netzwerk auf deren Verhalten, das „vollkommen unseren
Grundsätzen“ widerspreche. So hätten sie „alle Anklagepunkte vor dem Gericht eingeräumt“. Da
sie Bedauern über die Taten geäußert und sich damit von der „Gewalt gegen Personen und Sachen“
distanziert hätten, könne die „Solidaritätsarbeit“ nicht aufrechterhalten werden. Dies stehe den
netzwerkeigenen „Eckpunkten gegen Repression und für Solidarität entgegen“.
Konkret werden hierfür unter anderem die Grundsätze „Aussageverweigerung“, „keine Zusammenarbeit
mit Staat und Repressionsbehörden“ und „Drinnen und draußen – ein Kampf!“ genannt. Durch
die Missachtung dieser Eckpunkte bleibe dem Netzwerk einzig eine Schlussfolgerung: „Wir stellen unsere Solidaritätsarbeit
(…) ein“.
Hintergrund
Bei Strafverfolgungsmaßnahmen gegen Aktivisten, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind, sind
„Solidaritäts“-Bekundungen aus dem linksextremen Spektrum üblich. Wenngleich die beiden Angeklagten nur dem
erweiterten linksextremistischen Spektrum zuzuordnen sind und nicht fest in linksextremistischen Strukturen verankert scheinen, hatten die
Maßnahmen im Kontext des laufenden Verfahrens dennoch zu einer Reaktion einschlägiger Akteure aus diesem Spektrum geführt.
Neben dem „Netzwerk Freiheit für alle politischen Gefangenen“ hatte beispielsweise auch die „Rote Hilfe e. V.“
(RH) ihre Solidarität mit den Beschuldigten erklärt.
Bewertung
„Solidaritäts“-Bekundungen sollen die uneingeschränkte Unterstützung von Angeklagten suggerieren und diese in ihrer oppositionellen Haltung gegenüber dem Rechtsstaat bestärken. Das mit dem Begriff Solidarität assoziierte bedingungslose Einstehen füreinander ist in solchen Fällen jedoch nicht ganz so bedingungslos, wie es die Wortbedeutung vermuten lässt. Eine öffentliche Unterstützung wird nur dann gewährt, wenn die politische Einstellung konsequent beibehalten wird. Dies umfasst unter anderem die strikte Ablehnung einer Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen, etwa durch eine grundsätzliche Aussageverweigerung. Das Bestärken der Betroffenen zielt letztlich darauf ab, sie in ihrer Weltanschauung zu festigen und durch ein Zusammengehörigkeitsgefühl Strahlkraft auf andere, auch linksextremistische Aktivisten zu entfalten.
Die Reaktion des „Netzwerks Freiheit für alle politischen Gefangenen“ auf die Geschehnisse im laufenden RAZ/MIEZE-Verfahren veranschaulicht besonders deutlich die Bedingungen, an welche die „Solidaritätsarbeit“ linksextremer Akteure geknüpft ist. So verweist das Netzwerk zu Beginn der Ankündigung darauf, bislang unterschiedliche Formen der Unterstützung für die beiden Angeklagten geleistet zu haben. Dazu zähle unter anderem, den „Kontakt per Post“ sowie „Öffentlichkeit zu ihrem Prozess“ hergestellt zu haben. Wegen des Einräumens der Anklagepunkte und des Bedauerns der Taten lassen sich die beiden Angeklagten nun jedoch nicht mehr zu konsequenten Verfechtern einer linksextremistischen Weltanschauung stilisieren. Um die Glaubwürdigkeit zu wahren, blieb dem Netzwerk angesichts der Einlassungen daher nur der gewählte Weg: die sofortige Beendigung jeglicher Unterstützungsleistungen.
Dies wirft die Frage nach möglichen Reaktionen anderer Akteure auf, allen voran der RH. Bislang sind jedoch keine weiteren Distanzierungen bekannt.
Aktualisierung
Aktualisierung:
Am 31. Mai 2021 veröffentlichte nun auch der linksextremistische Verein „Rote Hilfe e.V.“ (RH) einen Beitrag, der in aller
Deutlichkeit die Unterstützung der beiden Angeklagten ausschließt. Die auf dem überwiegend von Linksextremisten genutzten
Internetportal „de.indymedia.org“ veröffentlichte Erklärung führt, ebenso wie der Text des „Netzwerks
Freiheit für alle politischen Gefangenen“, die Einlassungen und Reueerklärungen der Beschuldigten als Grund an. Da
hierdurch „die politische Dimension des Verfahrens völlig ausgeblendet“ werde, erfolge für die Angeklagten keinerlei
Hilfe durch den Verein, der sich selbst als „Solidaritätsorganisation, die politisch Verfolgte aus dem linken Spektrum
unterstützt“ sieht. Weiterhin schreibt die RH einem der Angeklagten eine langjährige Zugehörigkeit zu
„Nazi-Organisationen“ zu, die er bei seinem Kontakt mit „linken Strukturen“ nicht offenbart
hatte. Dies sei als „weiterer Bruch mit sämtlichen Minimalstandards“ einer Unterstützung durch die RH zu
werten.
Bewertung
Mit der RH hat nun neben dem „Netzwerk für alle politischen Gefangenen“ eine weitere große Antirepressionsstruktur
ihre Unterstützung versagt und sich von den Angeklagten distanziert. Als gemeinsame Mitstreiter dürften die beiden Beschuldigten
innerhalb der linksextremistischen Szene spätestens nach den aktuellen Veröffentlichungen der RH über Kontakte zu
„rechten Strukturen“ endgültig nicht mehr gelten.