Auf der Tagesordnung der 12. Ordentlichen Generalversammlung, an der nach Angaben der IGMG 1.176 Delegierte teilnahmen, standen die Tätigkeits- und Finanzberichte für das Jahr 2020 sowie die Wahl des Vorstands. Zunächst dankte der IGMG-Generalvorsitzende ERGÜN den Ortsvereinen für ihre außerordentlichen Anstrengungen unter den Bedingungen der Corona-Pandemie; auch wurde der an COVID-19 Verstorbenen gedacht. ERGÜN führte aus:
„In einer Zeit, in der es wichtiger als je zuvor ist, eine Gemeinde, eine Umma zu sein, liegt unsere größte Verantwortung darin, in dieser Welt, in der die Menschen durch Krankheiten, Epidemien, Kriege und Katastrophen in eine Sinnkrise geraten sind, Repräsentanten der erhabenen Wahrheit des Islam zu sein.“
Statt mit Blick auf die jüngsten Terroranschläge in Frankreich und Österreich die Taten oder die Täter in den Fokus zu rücken, stellte ERGÜN Muslime wie auch die IGMG als Organisation als Zielscheibe verschiedener Angriffe dar. Er sagte, man werde sich gegen diese zur Wehr setzen, indem man die eigene Wahrheit herausstelle und den eigenen Weg fortsetze:
„Wir sind keine Organisation, die sich beleidigt zurückzieht oder sich an den Rand drängen lässt. Wenn Menschen uns mit Vorurteilen begegnen, können wir ihnen nicht ebenso mit Vorurteilen begegnen.“
Diese Praxis der IGMG, sich selbst in einem Akt der Täter-Opfer-Umkehr von jeglicher potentiellen Mitverantwortung freizusprechen und sich als eigentliche Opfer zu inszenieren, entbehrt nicht eines gewissen Zynismus und verhindert einen unverstellten Blick auf die Fakten.
Gegen Probleme oder Hindernisse auf staatlicher Ebene oder im politischen Raum, so fuhr ERGÜN gleichermaßen unbeirrt fort, gehe man selbstbewusst an:
„Denn wir wissen, dass diese Vorurteile nichts mit ‚uns‘ zu tun haben. Diese Vorurteile uns gegenüber haben mit der Unwissenheit der entsprechenden Personen über uns zu tun. Unklare, polarisierende und ausgrenzende Bezeichnungen, wie sie in Frankreich mit dem Begriff ‚politischer Islamismus‘ bezüglich unserer Organisation verwendet wurden, lehnen wir ab. Wir sind nicht dies oder jenes, und auch nicht die Vertreter irgendeiner Strömung. Wir sind Muslime dieser Zeit und dieses Territoriums.“
Auch sei die IGMG niemals der verlängerte Arm eines Landes, Staates oder einer Partei, stellte ERGÜN klar. Die jüngste Eskalation des Palästina-Konflikts im Mai 2021 kommentierte er folgendermaßen:
„Niemand kann Menschen bei der Andacht antasten. Man schützt nicht die Al-Aqsa-Moschee, indem man eine Synagoge angreift. Feindschaft gegenüber einer Religion kann nichts mit dem Koran zu tun haben. (…) Eine Ideologie, die Menschen Schmerzen zufügt, Menschen tötet, Hass und Abscheu in die Welt verbreitet, können wir – noch dazu im Namen unserer heiligen Religion des Islam – weder annehmen, noch können wir eine solche Denkweise begrüßen oder ihr gegenübertreten.“
Angesichts von Ungerechtigkeiten werde man als Organisation auf juristischer Basis weiterhin für die Wahrung der eigenen Rechte kämpfen. Mit dieser Haltung werde man in den jeweiligen Aufenthaltsländern auf der Grundlage der Verfassung und im Rahmen der Gesetze weiterhin die eigene Kritik, die eigene Haltung und die eigenen Ideen zum Wohl der Gesellschaft einbringen. Man tue dies aus eigener menschlicher und islamischer Verantwortung, um einen positiven Beitrag zugunsten der Gesellschaft zu leisten, in der man lebe.
Bei der Vorstandswahl wurde Kemal ERGÜN von 1.145 Delegierten als IGMG-Generalvorsitzender bestätigt. Das Amt des Generalsekretärs bekleidet weiterhin Bekir ALTAS. Als Stellvertreter des Generalvorsitzenden verbleiben Murat ILERI und Mikayil DEMIR jeweils in ihrer Funktion, während Celil YALINKILIC, der Vorsitzende der Kommission für religiöse Rechtleitung, an die Stelle des auf eigene Veranlassung ausgeschiedenen Hakki CIFTCI tritt.
Das langjährige Vorstandsmitglied CIFTCI, ein Vertrauter und Weggefährte ERGÜNs, war am Vortag der Generalversammlung zurückgetreten. Dies kommentierte ein prominenter früherer Funktionär der IGMG, der ihr nunmehr kritisch gegenübersteht, ausführlich in einem Online-Artikel mit der Überschrift „Führungskrise in der IGMG im Vorfeld der Generalversammlung“. Zunächst wies der Kritiker auf den Umstand hin, dass der in dritter Amtszeit befindliche Generalvorsitzende ERGÜN ohne Gegenkandidat in diese Wahl gegangen sei. Die IGMG-Generalversammlung sei nicht als Ort des Wettstreits von Kandidaten und Programmen, Meinungen und Wertungen zu verstehen; vielmehr sei im Grunde „alles schon vorher klar“ und die Durchführung der Generalversammlung lediglich eine „durch das Vereinsgesetz vorgegebene Notwendigkeit“.
Die Hintergründe seines Rücktritts habe CIFTCI bereits Anfang April 2021 in einem 21-seitigen Schreiben im Detail dargelegt.
Der Kritiker berichtete, dem umfangreichen Schreiben sei zu entnehmen, dass CIFTCI die Ausrichtung der Organisation nicht mehr für
zeitgemäß erachte und funktionsuntüchtige Beratungsmechanismen sowie eine mangelnde interne Kultur der Kritikfähigkeit
anprangere. Unter Beachtung der „organisationsüblichen Tradition“ vermeide CIFTCI weitgehend direkte Kritik und
bringe stattdessen strukturelle Reformvorschläge vor. Indirekt erhebe er jedoch gegen den Generalvorsitzenden schwere Vorwürfe,
indem er in Bezug auf die Organisationsstruktur von einer „von oben herab funktionierenden Befehlsstruktur“ spreche;
so habe die Generalversammlung als oberstes Gremium der Willensbildung einzig die Funktion, den ihr vorgelegten Entwürfen zuzustimmen.
Aufgrund nicht funktionierender Beratungsstrukturen, so habe CIFTCI weiter ausgeführt, habe er selbst während zwölf Jahren
Mitgliedschaft im obersten Ratsgremium keinem einzigen effektiven Beratungsprozess beigewohnt.
Demgegenüber gab CIFTCI am 29. Mai 2021 in den sozialen Netzwerken lediglich in einem kurzen Statement die Niederlegung seiner
Führungsaufgaben bekannt, schwieg sich über die Hintergründe seines Rücktritts jedoch aus.
Seine Kommentierung der Ereignisse schließt der Kritiker mit den Worten:
„Es ist nicht schwer zu erahnen, dass die im Zusammenhang mit diesem ‚Rücktritt‘ einen Tag vor der
Generalversammlung vermutlich im Monat April in der Organisation zirkulierende Kritik einschließlich der Vorschläge zur Abhilfe
keine Akzeptanz finden. Dieser Rücktritt und die im Vorfeld erhobene Kritik werden auf die am 30. Mai 2021 stattfindende
Generalversammlung und die Wahl des Vorstands keinerlei Auswirkungen haben.“