An Demonstrationsveranstaltungen gegen steigende Energiepreise, die hohe Inflation oder die staatlichen Corona-Schutzmaßnahmen beteiligen sich Menschen mit unterschiedlichsten biografischen Hintergründen und Motivationen. Die meisten sind vorher noch nicht mit extremistischen Narrativen in Berührung gekommen. Extremisten wittern eine Chance, genau solche Protestteilnehmer auf ihre Seite zu ziehen, was allerdings nicht bei allen gleichermaßen funktioniert.
Erfahrungsgemäß bieten bestimmte, nicht-extremistische Narrative bzw. Positionen eine gute Anschlussfähigkeit
insbesondere zu solchen extremistischen Weltbildern, die maßgeblich aus Verschwörungserzählungen bestehen oder gänzlich
darauf basieren. Mehrere Narrative werden von Extremisten und Nicht-Extremisten gleichermaßen vertreten. Sie können
Anknüpfungspunkte für einen Beitrag zur Radikalisierung bislang unauffälliger Personen in Richtung verfassungsfeindlicher
Einstellungen und Bestrebungen sein.
Wissenschaftsfeindlichkeit
Extremistisch durchzogene Verschwörungserzählungen leben davon, dass sie ohne echte wissenschaftliche Belege geglaubt werden.
Skepsis gegenüber der Wissenschaft oder gar deren gänzliche Ablehnung bieten folglich eine hohe Anschlussfähigkeit an den
Extremismus. Auch wenn Verschwörungsideologen immer wieder vermeintliche Beweise für ihre Erzählungen anführen, stehen
letztlich die glaubensbasierten Überzeugungen ihrer Anhänger im Vordergrund. Diese vertrauen auf ein „Gefühl der
Plausibilität“, das allerdings allzu sehr von persönlichen Empfindungen und Motivationen getrieben ist.
Ein Beispiel hierfür ist die Corona-Pandemie: Die wissenschaftlich fundierte Annahme einer weltweiten Pandemie bringt mittelbar
unerwünschte Effekte wie die Masken- oder die teilweise bestehende Impfpflicht mit sich. Verschwörungsideologen sind deshalb
geneigt, die wissenschaftlichen Erkenntnisse durch gegenteilige Überzeugungen („Corona ist nicht mehr als eine Grippe“)
oder gar durch das Narrativ einer globalen Verschwörung (erfundene Pandemie als Ablenkungsmanöver, als Umgestaltungsbeschleuniger
hin zu einer neuen Weltordnung etc.) zu ersetzen. Personen, die wissenschaftlichen Erkenntnissen grundsätzlich skeptisch oder
ablehnend gegenüberstehen, lassen sich von entsprechenden Erzählungen leichter überzeugen.
Einzelne, z. T. auch ehemals durchaus angesehene Wissenschaftler, deren Ansichten vom Expertenkonsens abweichen, werden in
extremistischen Milieus oftmals als Vorbilder und Zeugen herangezogen. Allerdings weist auch dies auf eine grundsätzliche Ablehnung
der Wissenschaft als Ganzes hin, da die Mehrheit der Experten zugunsten von Minderheitenpositionen stets beiseitegeschoben oder gar als
(bezahlter oder gesteuerter) Teil einer Verschwörung diffamiert wird.
Außer beim Thema Corona-Pandemie ist dies auch regelmäßig in Bezug auf den menschengemachten Klimawandel festzustellen:
Extremisten stürzen sich geradezu auf jede Meinung, die vom Gros der Wissenschaft abweicht und die eigene ablehnende Position
bestätigt.
Technologiefeindlichkeit
Auch die grundsätzliche, undifferenzierte Ablehnung neuer Technologien bietet Extremisten gute Anknüpfungspunkte. Sie nutzen
eine entsprechende Skepsis oder Ablehnung in Teilen der Gesellschaft, um dystopische Bedrohungsszenarien zu entwerfen. Symptomatisch
hierfür ist die Erzählung von einem angeblich bevorstehenden „Transhumanismus“. Dahinter verbirgt sich die
Vorstellung, dass die Vermischung von Biologie und Technologie als nächste Evolutionsstufe aktiv herbeigeführt werden soll.
Menschen, die Zukunftstechnologien grundsätzlich kritisch gegenüberstehen, können sich hier in ihrer Position bestätigt
sehen – und in der äußersten Konsequenz auf extremistische Erzählungen hereinfallen, denen zufolge letztendlich Juden
oder der Staat entsprechende Pläne hegen oder für diese mindestens mitverantwortlich sind.
Verschwörungsideologien nehmen häufig Bezug auf bestimmte technische Erfindungen oder damit in Verbindung stehende
Phänomene, z. B. Mikrochips, Nanotechnologie, Strahlungen oder die Digitalisierung insgesamt. Ebenso beschwören und befeuern
Extremisten immer wieder das Bedrohungsszenario, wonach das Bargeld abgeschafft werden soll, um eine dauerhafte Überwachung der
Bürger über andere Zahlungsmethoden zu ermöglichen.
Unwille zur gesellschaftlichen/sozialen Veränderung
Auch eine fehlende Akzeptanz gesellschaftlicher bzw. sozialer Veränderungen oder Weiterentwicklungen lässt sich instrumentalisieren. Dies tun Extremisten ebenfalls; die Bandbreite reicht vom Schüren von Ängsten bis hin zur Konstruktion von Untergangsszenarien. Häufig stilisieren sie beispielsweise die Ausweitung der Rechte für marginalisierte Gruppen, etwa für Homosexuelle, zur „Agenda zur Vernichtung traditioneller Werte“. Unter anderem Rechtsextremisten vertreten ein grundsätzlich reaktionäres Weltbild, das auf einer vermeintlichen Rückbesinnung auf Werte vergangener Zeiten basiert und moderne gesellschaftliche Entwicklungen ablehnt. Auch die derzeitige Diskussion über gendergerechte Sprache betrachten sie unter diesen Gesichtspunkten. Argumente werden hierbei nicht auf einer sachlichen, sondern eher auf einer existentiellen Ebene ausgehandelt („Tod der Sprache“ etc.). Begriffe wie „Gendergaga“ oder „(grüne) Gesinnungsdiktatur“ sind nicht selten in rechten und auch in (rechts)extremistischen Kreisen anzutreffen.
In weiten Teilen des Milieus der „Reichsbürger“ wird eine Rückwärtsgewandtheit besonders deutlich: Die
Anhänger sehnen sowohl Gesetze als auch die geografischen Grenzen Deutschlands aus den Zeiten des historischen deutschen Kaiserreichs
herbei. Häufig nehmen sie überdies Bezug auf das – zwischenzeitlich erneuerte – „Reichs- und
Staatsangehörigkeitsgesetz“ (RuStAG) von 1913 in seiner ursprünglichen Form. Hieran zeigt sich, dass sie die
Möglichkeit der Einbürgerung und damit der vollen Staatsangehörigkeit von Personen ablehnen, deren deutsche Abstammung sich
nicht über mehrere Generationen nachweisen lässt. Auch wenn Rechtsextremisten dies wesentlich deutlicher aussprechen, gehen
„Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ ebenfalls davon aus, dass die „wahre“
Staatsangehörigkeit Personen vorbehalten sein sollte, die biologisch von deutschen Vorfahren abstammen.
Religiöser Fundamentalismus
Nicht nur im Islamismus wird eine fundamentalistische Auslegung religiöser Grundlagen in den Extremismus betrieben. Extremisten können auch stark konservative christliche Ansichten instrumentalisieren, um die eigenen Ansichten zu untermauern. Dies ist derzeit insbesondere im Phänomenbereich „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ festzustellen. Hier kommt es vor, dass der Hass auf den Staat durch religiöse Bezugnahmen oder die hohen Reichweiten der Akteure verstärkt wird. Der Bezug auf Gott und religiöse Werte soll auch diesen Ansichten eine erhöhte Glaubwürdigkeit verleihen.
Eine Erklärung für die Anschlussfähigkeit fundamentalistisch-religiöser Weltbilder besteht in einigen Merkmalen, die
sowohl ihnen als auch extremistischen Ideologien innewohnen: ein Alleinvertretungsanspruch, Dogmatismus sowie ein einfach gestaltetes
Freund-Feind-Denken. Dies gilt explizit nicht für religiöse Auslegungen, die eine gewisse Offenheit und Reformbereitschaft
erkennen lassen. Deren Anschlussfähigkeit an den Extremismus dürfte deutlich geringer sein.
Fazit: Insbesondere radikale, rückwärtsgewandte und undifferenzierte Positionen sind anschlussfähig
Zwar sind die Ablehnung von Wissenschaft und neuen Technologien, ein Unwille zur gesellschaftlichen/sozialen Veränderung oder
religiöser Fundamentalismus nicht per se extremistisch – so radikal sie auch vertreten werden. Alle drei Aspekte bieten jedoch
Extremisten eine willkommene Möglichkeit, Anschluss an Teile der Mehrheitsgesellschaft zu finden.
Grundsätzlich suchen die Anhänger extremistischer Ideologien nach Gemeinsamkeiten. Sie versuchen, die genannten Narrative
extremistisch zu unterfüttern, indem sie um diese herum staatsfeindliche und zumeist auch antisemitische
Verschwörungserzählungen konstruieren, die Schuldige für unerwünschte nationale und internationale Entwicklungen
präsentieren und damit empfängliche Personen abholen.
Je radikaler sich eine Sichtweise gestaltet, desto weniger werden abweichende Meinungen akzeptiert und desto eher können Extremisten sie vereinnahmen. Akteure verschiedener verfassungsfeindlicher Phänomenbereiche profitieren von radikalen, rückwärtsgewandten und undifferenzierten Positionen, auch wenn diese für sich genommen nicht extremistisch sind.
Ein entsprechendes Potenzial können aber auch radikal revolutionäre, vorwärtsgewandte bzw. zukunftsorientierte Haltungen entfalten, wenn sie keine alternative Sichtweise mehr zulassen. Diese Phänomene müssen jedoch in anderer Weise dargestellt und analysiert werden, da bei ihnen andere Narrative eine Rolle spielen. Die im vorliegenden Beitrag dargestellten Positionen sind speziell bei reaktionären Extremismusformen anschlussfähig; dazu zählen u. a. maßgebliche Teile der „Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates“, des „Reichsbürger-“ und „Selbstverwalter“-Milieus sowie des Rechtsextremismus.