Anlässlich des Prozessbeginns am 2. September 2020 veröffentlichte die Redaktion von „Charlie Hebdo“ die Karikaturen von 2014 erneut. Daraufhin kam es auch in Mitteleuropa auf vielen Ebenen zu Ereignissen, die eine Art Dominoeffekt erkennen lassen. Damit wurde die bislang ruhige Wahrnehmungsphase des islamistischen Terrors 2020 in Europa unterbrochen. Weltweit gab es 2020 allerdings eine Vielzahl von islamistischen Anschlägen mit hohen Opferzahlen, die in Europa medial kaum wahrgenommen wurden.
Weiter befeuert wurde die Eskalationsspirale durch eine Grundsatzrede des französischen Staatspräsidenten Macron vom 2. Oktober 2020. Dieser sagte dem „islamistischen Separatismus“ in Frankreich den Kampf an und verteidigte die Meinungsfreiheit sowie die Veröffentlichung auch religionskritischer Karikaturen. Seine Rede provozierte ebenfalls heftige Reaktionen in islamistischen Milieus in Frankreich selbst, aber auch in weiten Teilen der muslimischen Welt. Weltweit folgten teils hasserfüllte Reaktionen und Gewaltaufrufe. In Ländern mit einem hohen Anteil von Muslimen in der Bevölkerung kam es zu antifranzösischen Protestmärschen mit den geradezu obligatorischen Flaggenverbrennungen und der Zerstörung von Macron-Portraits, z. B. in Pakistan. Französische Produkte in Supermärkten in der Region wurden aus den Regalen entfernt.
Der vermutlich erste konkrete Angriff der Serie ereignete sich am 25. September 2020 vor dem früheren Sitz der
„Charlie-Hebdo“-Redaktion in Paris. Dort attackierte ein Angreifer zwei Personen mit einem Hackmesser und
verletzte beide schwer. Die Opfer arbeiteten bei einer Filmproduktionsfirma im Gebäude und waren für eine Zigarettenpause auf die
Straße gegangen.
Kurze Zeit später wurde der flüchtige Hauptverdächtige festgenommen; er legte ein Geständnis ab. Nach Angaben des
Staatsanwalts wollte er die Redaktionsräume in Brand stecken. Der 25-jährige Pakistaner lebte seit 2018 mit falscher
Identität in Frankreich, wo er sich als Minderjähriger ausgegeben hatte. Als Auslöser für seine Tat gab er an, er habe
ein pakistanisches Video über die erneute Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen gesehen. Seit das Satiremagazin Anfang
September abermals Mohammed-Karikaturen veröffentlicht hat, werden die Redakteure wieder massiv bedroht.
Am 4. Oktober 2020 wurden zwei Männer in der Dresdener Innenstadt unvermittelt mit Messern angegriffen. Einer von ihnen starb, der andere wurde schwer verletzt. Die Bundesanwaltschaft geht von einem islamistischen Hintergrund und mutmaßlich einem homophoben Motiv aus. Der als islamistischer Gefährder eingestufte Tatverdächtige war von Violence Prevention Network (VPN), einer bundesweiten Deradikalisierungseinrichtung, betreut worden. Er befand sich erst seit wenigen Tagen nach seiner Haftentlassung in Freiheit. Der erkennbare Tatablauf und die Motivlage lassen allerdings keinen Zusammenhang mit den Ereignissen in Frankreich vermuten.
Am 16. Oktober 2020 enthauptete ein 18-jähriger Tschetschene einen Geschichtslehrer im Pariser Vorort Conflans-Sainte-Honorine. Grund dafür soll die Besprechung der Mohammed-Karikaturen in einer Unterrichtsreihe zum Thema Meinungsfreiheit gewesen sein. Der Angreifer wurde kurz nach der Tat von Polizisten erschossen. Auf Instagram veröffentlichte der Täter ein Foto des abgetrennten Kopfes und den Text:
„(…) An Macron, Herrscher der Ungläubigen, ich habe einen deiner Höllenhunde exekutiert, der es gewagt hat, Mohammed zu erniedrigen. (…)“
Infolge der Tat kam es zu Schweigeminuten und Gedenkveranstaltungen in französischen Schulen. Laut Pressemeldungen interpretierten hierbei einzelne Schüler die Karikaturen als Beleidigung des Propheten und bezeichneten die Tat als durchaus gerechtfertigt. Einzelne derartige Vorkommnisse in Schulklassen soll es auch in deutschen Schulen bei ähnlichen Gedenkveranstaltungen gegeben haben.
Am 29. Oktober 2020 gab es gleich drei Vorkommnisse:
In Nizza wurden gegen neun Uhr morgens bei einer Attacke in einer Kirche drei Menschen getötet. Der aus Tunesien
stammende mutmaßliche Attentäter wurde durch die Polizei angeschossen. Er war im September 2020 über die italienische Insel
Lampedusa als Asylbewerber in die EU eingereist und befand sich erst seit wenigen Tagen in Frankreich. Die französische Polizei nahm
weitere Personen im Zusammenhang mit der Tat fest.
Nur wenige Stunden später randalierten ca. 30, mutmaßlich überwiegend türkische Jugendliche in einer katholischen
Kirche in Wien-Favoriten. Sie riefen „Allahu akbar“ und traten gegen Sitzbänke sowie den Beichtstuhl. Als
der Pfarrer die Polizei rief, flüchteten die Jugendlichen unerkannt. Sie hatten sich vermutlich über soziale Medien
abgesprochen.
Am selben Tag wurde ein Wachmann vor dem französischen Konsulat in Jeddah/Saudi-Arabien verletzt, der einheimische
Angreifer wurde festgenommen.
Das Szenario gipfelte in den Terroranschlag von Wien am Abend des 2. November 2020. Bei dem Amoklauf
wurden vier Personen getötet und 23 weitere teils schwer verletzt. Gegen 20 Uhr Ortszeit wurden die ersten Schüsse in der Wiener
Innenstadt gemeldet.
Der mutmaßliche Täter, der 20-jährige Kujtim F., wurde in Österreich geboren und stammt aus der Volksgruppe der Albaner
in Nordmazedonien. Er wurde von der Polizei erschossen. F. war Mitglied der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS), die
sich zwei Tage später zu dem Anschlag bekannte und ein Video des Attentäters mit dem Schwur auf den IS-„Kalifen“
veröffentlichte. Allerdings finden sich weder in der Tatbekennung noch im Video Angaben über ein konkretes Motiv des
Attentäters. Ein direkter Zusammenhang mit dem Konflikt um die Mohammed-Karikaturen ließ sich nicht nachweisen. Bislang kann nur
spekuliert werden, dass der von der österreichischen Regierung – zum damaligen Zeitpunkt – geplante Corona-Lockdown ab
Mitternacht den Attentäter zu einem überstürzten Anschlagsbeginn an diesem Abend getrieben haben könnte.
Im August 2018 wollte Kujtim F. nach Kabul fliegen, um sich der dortigen IS-Zelle anzuschließen. Weil er kein Visum für
Afghanistan hatte, entschied er sich stattdessen für eine Reise in die syrischen IS-Gebiete. Allerdings scheiterte auch dieses
Vorhaben, da er bereits in der Türkei von den dortigen Behörden festgenommen wurde. In Österreich wurde er am 25. April 2019
wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu 22 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Am Tag seines Anschlags in Wien gab es
auch in Kabul einen Angriff auf eine Universität. Die Angreifer töteten Dutzende Menschen, darunter viele
Studentinnen und Studenten. Diesen Terroranschlag reklamierte der IS ebenfalls für sich.
Weitere Aktionen
In Berlin-Neukölln demonstrierten am Abend des 29. Oktober 2020 rund 150 Menschen, vorwiegend Männer, gegen die angeblich islamfeindliche Politik in Frankreich. Ein möglicher weiterer Hintergrund dieser Demo könnte in den Auseinandersetzungen zwischen Frankreich und der Türkei um Gasvorkommen in der Ägäis zu verorten sein.
Am 30. Oktober 2020 protestierten in Berlin mindestens ca. 60 komplett schwarz gekleidete Männer einer muslimischen Gruppe vor dem Brandenburger Tor sowie der französischen Botschaft am Pariser Platz. Zuvor hatte es noch mehrere weitere Demonstrationen gegeben.
Am 1. November 2020 führte der arabischsprachige YouTuber Fayez K. ein syrischer Flüchtling, bei einer
bizarren Aktion in traditioneller arabischer Kleidung einen als Präsident Macron kostümierten, gefesselten Mann an einem Seil
durch Berlin-Neukölln. Dabei wurden unter „Allahu-akbar“-Rufen Papiermasken mit dem Bild von Macron
verbrannt. Diese Aktion erzeugte ein großes Medienecho; laut Pressemeldungen wollte Fayez K. dem Westen die Grenzen der
Meinungsfreiheit aufzeigen. Die im Video gezeigten Anwesenden, durchweg offenkundig junge Männer mit Migrationshintergrund, wirkten
begeistert von der Performance auf Arabisch.
Perspektive
Nach Einschätzung des Landesamts für Verfassungsschutz ist täglich mit Anschlägen zu rechnen – die latente Gefährdungslage hat sich deutlich erhöht. Auch französische Einrichtungen in Deutschland sind aufgrund der Ereignisse weiterhin gefährdet.
Durch die Verbreitung bestimmter Inhalte und ideologischer Botschaften sowie durch das Schüren und Verstärken von Empörungsdynamiken erhöht sich die Wahrscheinlichkeit eines Anschlags, in der Regel durch einzeln agierende Täter. Online-Meme und Botschaften von diversen islamistischen Gruppen bis hin zu staatlichen Akteuren aus der muslimischen Welt befeuern die Empörung zusätzlich, wie auch die geschilderten Ereignisse zeigen. Diese Agitation geht derzeit weit über das in der Szene übliche ideologische „Grundrauschen“ hinaus, weshalb das Landesamt für Verfassungsschutz von einer deutlichen Erhöhung der latenten Gefährdung ausgeht.
Syrien-Rückkehrer und Personen, die Ausreiseversuche zum „Islamischen Staat“ unternommen haben, besitzen hierbei eine besondere Relevanz: Sie haben in den meisten Fällen einen kompletten Radikalisierungsprozess durchlaufen, es bestehen vertiefte Kennverhältnisse zu anderen Radikalisierten und zumeist verfügen sie über Kampferfahrung oder zumindest Erfahrung im Umgang mit Waffen. Hinzu kommt, dass die jihadistische Szene Lernprozesse durchläuft, nicht zuletzt durch den Repressionsdruck, dem sie ausgesetzt ist. Mit der Unterstützung und auch Zugehörigkeit zum IS und anderen terroristischen Organisationen machen sich viele Anhänger strafbar. Viele befinden sich nach Rückkehr in Untersuchungshaft und müssen sich vor Gerichten verantworten; einige wurden bereits zu Freiheitsstrafen verurteilt. Infolgedessen wächst das Szenewissen um Möglichkeiten und Grenzen der Überwachung durch Sicherheitsbehörden und wird weiterverbreitet.
Die Ausgereisten sind in hohem Maße radikalisiert. In Verbindung mit fortschreitenden Radikalisierungsprozessen innerhalb der ortsansässigen salafistischen Szene in Deutschland kann dies einen Nährboden für die Indoktrination weiterer hochmotivierter und tief ideologisierter Jihadisten bilden.
Meist sind es zornige junge Männer im Alter von 15 bis 30 Jahren mit Migrationshintergrund – zuletzt oft aus dem Balkan, Kaukasus oder Maghreb –, die sich dort radikalisieren, wo sie zuletzt ihren Lebensmittelpunkt hatten. Dabei steht auch eine erkennbare Selbstinszenierung als Helden im Kampf gegen die Ungläubigen im Vordergrund. Schon aufgrund ihres jugendlichen Alters sind sie in vielen Fällen religiöse Analphabeten; ihr Wissen über den Islam beziehen sie in weiten Teilen von entsprechenden Internetplattformen. Ihre realen Diskussionspartner haben in der Regel das gleiche minimale Wissensniveau, oder sie sind manipulative selbsternannte „Islamwissende“, die diese jungen Menschen in die Militanz treiben wollen.
Auch psychisch labile Personen, die aufgrund oft nicht genau bestimmter Zusammenhänge in psychische Ausnahmesituationen geraten,
sind extrem gefährlich. Sie „garnieren“ ihre Taten gelegentlich mit „Allahu-akbar“-Rufen und weiteren
muslimischen Attitüden. So inszenieren sie sich als islamistische Kämpfer und vermeintliche Retter des Islams. Während der
Ermittlungen ergeben sich oft keine belastbaren Verbindungen in ein islamistisches Milieu oder gar zum IS. In diesem Personenkreis finden
sich kaum Konvertiten.
Ein Beispiel für ein derartiges Szenario ist der Fahrzeuganschlag auf der Stadtautobahn in Berlin vom 18. August 2020. Hier rammte ein
Iraker mehrere Motorradfahrer und verletzte insgesamt sechs Personen schwer. Er wurde sofort nach der Tat in die Psychiatrie
eingewiesen.
Fazit
In der Gesamtschau ist das derzeitige islamistische Agitionsniveau dazu geeignet, einzelne Akteure latent zu spontanen Anschlägen
anzustacheln, ohne dass direkte Verbindungen zwischen Täter und Agitator bestehen müssen. Die Agitation im Zusammenhang mit den
Mohammed-Karikaturen und den jüngsten jihadistischen Anschlägen ist längst zum Selbstläufer geworden. Staatliche
Maßnahmen gegen islamistische Organisationen wie zuletzt in Frankreich und Österreich haben dabei das Potenzial, die aktuelle
Lage noch weiter zu verschärfen.