Nach über eineinhalb Jahren Verfahrensdauer sah es das Gericht als erwiesen an, dass sich die Deutsch-Algerierin O. der
mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland schuldig gemacht hat. Zudem wurde O. in einem Fall
tateinheitlich wegen eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit mit Todesfolge durch Versklavung, eines Verbrechens gegen die
Menschlichkeit durch Verfolgung, der Beihilfe zu einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch Vergewaltigung, Freiheitsberaubung von
über einer Woche Dauer sowie Freiheitsberaubung mit Todesfolge und mit Körperverletzung verurteilt.
Frauen beim IS: indirekte Mitgliedschaft und Rollenvielfalt
Bei der Einordnung der Rolle, die Sarah O. für den IS spielte, muss die Entwicklung berücksichtig werden, die der IS durchgemacht hat. Im Hinblick auf die Einbindung von Frauen hat sich die Terrororganisation im Verlauf ihres Daseins als eine der flexibelsten jihadistischen Vereinigungen erwiesen: Je näher der IS der Realisierung seiner Utopie – der Etablierung eines islamischen Staats- und Gesellschaftswesens – kam, desto stärker wurde die Rolle der Frauen in diesen Strukturen.
Weil Frauen dazu beitragen, ein Kollektiv zu formen und sich von anderen Entitäten abzugrenzen, hatte ihre Rolle unter anderem einen symbolischen Charakter. Innerhalb der geschlechtersegregierten Strukturen im „Kalifat“ wurden Frauen zudem als Ärztinnen, Lehrerinnen oder bei der Religionspolizei eingesetzt. Eine wichtige Rolle spielten sie auch in der geschlechtsspezifischen Propaganda – das Ziel war es, neue Frauen für den IS zu gewinnen, die Nachwuchs für die Gemeinschaft gebären und die geschlechtergetrennten Strukturen stärken sollten.
Nichtsdestotrotz waren Frauen anders an den IS gebunden als die Männer: Während alle Männer, die sich dem IS anschlossen, den Treueid (bai’a) auf den „Kalifen“ leisten mussten, traf dies nur auf einen Teil der Frauen zu. Lediglich diejenigen, die ein Ausbildungslager durchliefen und später eine offizielle Funktion einnahmen, mussten direkt ein Bekenntnis der Gefolgschaft gegenüber dem IS-Führer ablegen. Bei allen anderen Frauen erfolgte die Mitgliedschaft in der Regel über den Ehemann.
Im Fall von Sarah O. sollen drei Aspekte genauer beleuchten werden: ihre Rolle als Mutter und Ehefrau, der Umgang mit Waffen sowie die
Praxis der Sklaverei.
Ehefrau und Mutter: Familiengründung als individuelle Problemlösungsstrategie
Sarah O. reiste im Oktober 2013 als 15-Jährige alleine von Baden-Württemberg nach Syrien aus, schloss sich dort dem IS an und heirate im Januar 2014 das deutsch-türkische IS-Mitglied Ismail S., mit dem sie in den folgenden vier Jahren drei Kinder bekam. Das Paar blieb bis Oktober 2017 in Syrien. In dieser Zeit unterstützte Sarah O. den IS beim Aufbau seiner quasi-staatlichen Strukturen unter anderem dadurch, dass sie einen Haushalt führte und die eigenen Kinder betreute. In ihrer Eigenschaft als Mutter kam sie der Aufforderung des IS nach, möglichst viele Kinder zu gebären, um so die Gemeinschaft zu vergrößern. Zudem ist davon auszugehen, dass O. ihre Kinder entsprechend der IS-Ideologie erzogen hat.
In der Gesamtschau wird auf der einen Seite deutlich, dass Sarah O. hochmotiviert ausgereist ist: Der Anschluss an den IS ohne
familiäre Begleitung oder Ehemann ist in ihrem Fall als Reset-Versuch zu werten, also totaler Neustart des eigenen Lebens. Auf der
anderen Seite ist es wahrscheinlich, dass ihre Ausreise und speziell die Familiengründung in Syrien als (dysfunktionale)
Problemlösungsstrategie fungierte: O. versuchte, sich damit von ihrer Herkunftsfamilie in Baden-Württemberg zu
lösen.
Der Anschluss an den IS als Problemlösungsstrategie mag auf den ersten Blick widersinnig wirken – O. ordnete sich einem System
unter, das Frauen grundsätzlich über ihre männlichen Bezugspersonen definiert. Beim IS war es nicht vorgesehen, dass eine
Frau dauerhaft ohne Ehemann oder Vater im IS-Gebiet lebt. Allein eingereiste Frauen wurden zunächst in einem Frauenhaus untergebracht;
Ziel war aber ihre Vermittlung an einen Mann. Neben der Verpflichtung zum Tragen eines Mantels und eines Gesichtsschleiers ist die
Definition der Frau über einen männlichen Verwandten zentral für die rigide Geschlechterordnung des IS. Im Fall von Sarah O.
konnte aber genau diese Praxis an Bedürfnisse andocken, die in der Phase der Präradikalisierung nicht erfüllt
waren.
Umgang mit Waffen: zwischen Fakten und Propaganda
Zumindest in den ersten Monaten nach ihrer Ausreise hielt Sarah O. mit früheren Freundinnen in Deutschland Kontakt. Sie schickte ihnen Nachrichten. Zudem betrieb O. einen eigenen Facebook-Account, auf dem sie hin und wieder neue Beiträge einstellte. Im Rahmen dieser Social-Media-Aktivitäten suggerierte O. wiederholt, als Frau beim IS Zugang zu Waffen zu haben und an diesen ausgebildet zu werden. Die früheren Freundinnen erreichte zum Beispiel irgendwann ein Foto, das O. beim Schießtraining zeigen soll. Die Person auf dem Bild trägt einen langen, weiten Mantel sowie Niqab und hält eine Langwaffe im Anschlag. Auf die Frage einer der Freundinnen, ob sie schießen lerne, antwortete O.: „Ich kanns schon ;)“. Kurz nach ihrer Ausreise veröffentlichte O. auf ihrem Facebook-Profil zudem ein Foto, auf dem eine Pistole in einer mit einem schwarzen Handschuh bekleideten Hand liegt. In einem Kommentar schrieb O.: „meine neue perle (…)“. Im Austausch mit anderen Facebook-Nutzerinnen erläuterte sie, die Waffe diene dem „Schutz“ und „wenn es mal darauf ankommt zum kämpfen“.
Tatsächlich ist beim IS der Umgang von Frauen mit Waffen ein ambivalent gehandeltes Thema. In der Regel waren Frauen von der
Beteiligung an Kampfhandlungen ausgeschlossen. Es gab aber immer wieder Phasen, in denen der IS Frauen in diesem Bereich punktuell
zugelassen hat: als Selbstmordattentäterinnen und in Frauenbrigaden zu Trainingszwecken. Zudem ist unbestritten, dass Frauen zum Zweck
der Selbstverteidigung geschult und mit Waffen ausgestattet wurden.
Sarah O.s. Selbstdarstellung ist vor diesem Hintergrund zu bewerten: Sie kämpfte nicht, sondern hat Training und Waffen erhalten, um
sich zu verteidigen. Die von ihr verbreiteten Bilder und Aussagen dienten aber auch einem Narrativ, dass die IS-Frauen als aktiv,
selbstbewusst und emanzipiert darstellen sollte. Schlussendlich war eine derartige Selbstdarstellung auch in Zusammenhang mit
Rekrutierungsversuchen bedeutsam.
Die Praxis der Sklaverei: Zeugnis einer raschen Verrohung der Persönlichkeit
Sarah O. hat gemeinsam mit ihrem Mann insgesamt sieben jesidische Mädchen und Frauen als Sklavinnen gehalten. Diese mussten zum Teil für O. den Haushalt führen. Zwei der Frauen wurden nach Auffassung des Gerichts zum Geschlechtsverkehr mit Ismail S. gezwungen, Sarah O. gab dazu ihr Einverständnis. Eines der Mädchen starb zudem bei einer von Sarah O. autorisierten Überlandfahrt infolge eines Beschusses. Damit hat Sarah O. die IS-Praxis der Sklaverei nicht nur mitgetragen, sondern auch versucht, sich durch Ausbeutung der ihr überstellten Frauen eigene Vorteile zu verschaffen.
Bei der Bewertung dessen muss berücksichtigt werden, dass Menschenhandel und sexualisierte Gewalt seit jeher eine Rolle in Kriegen
spielen. Der IS hatte sich diesbezüglich jedoch einen Sonderstatus erarbeitet: Das Ausmaß und die strukturelle Umsetzung der
Versklavung vor allem jesidischer Frauen ist beispiellos. Berücksichtigt werden muss zudem, dass nicht alle Frauen, die sich dem IS
angeschlossen hatten, Sklavinnen im eigenen Haushalt hielten. Das hängt nicht nur mit den Kosten für den Sklavenkauf zusammen.
Vielmehr ist davon auszugehen, dass ein Teil der Frauen diesen speziellen Aspekt der IS-Ideologie nicht mitgetragen hat oder nicht im
eigenen Leben umsetzen wollte. Dass Sarah O. über die vier Jahre ihres Aufenthalts in Syrien hinweg insgesamt sieben Sklavinnen in ihr
Haus aufnahm, spricht für eine rasche Verrohung der Persönlichkeit und eine umfassende Identifikation mit der
IS-Ideologie.
Ausblick: vielschichtige Herausforderung für die Sicherheitsbehörden und Präventionslandschaft
Die Rollen, die Frauen beim IS zwischenzeitlich zukamen, sind für das salafistisch-jihadistische Spektrum einzigartig. Der IS erkannte in der Phase, in der die Etablierung von quasi-staatlichen Strukturen im Zentrum seiner Aktivitäten stand, dass er auf Frauen angewiesen war, um die Kontrolle über ein Gebiet langfristig zu behalten: Er brauchte Frauen als Bürgerinnen seines „Kalifats“ und für die Aufrechterhaltung der geschlechtergetrennten Strukturen. Es bleibt abzuwarten, inwiefern andere jihadistische Organisationen dem Beispiel folgen. Das hängt auch davon ab, wie nah ein entsprechender Akteur der Realisierung seiner Gesellschaftsutopie kommt. Sicher ist aber, dass Frauen in einem solchen Fall verstärkt eine breitere Beteiligung einfordern dürften – weil sie beim IS gesehen haben, was in dieser Hinsicht möglich ist.
Sarah O. und ihre Rolle beim IS weisen zudem auf verschiedene Herausforderungen für die Deradikalisierungsarbeit hin. Dazu zählt ihre Haltung zur Sklaverei, die für die starke Verrohung ihrer Persönlichkeit spricht. Das Waffentraining und ihre eigene Waffenpropaganda bezeugen zudem einen gewissen Grad an Gewaltaffinität. Hinzu kommt, dass sie Syrien erst verlassen hat, als das IS-„Kalifat“ bereits zusammengebrochen und die Organisation militärisch an vielen Fronten geschlagen war. Sarah O.s. Beispiel zeigt also, dass Frauen mitunter ideologisch stark gefestigt und in einer herausragenden Täterrolle in Syrien und Irak fungiert haben. Daher ist die Berücksichtigung von Gender-Aspekten für eine erfolgversprechende Deradikalisierungsarbeit unumgänglich.