Eine Sozialdatenanalyse zu den in Baden-Württemberg lebenden Salafisten zeigt die Bedeutung des Faktors Alter für den Radikalisierungsprozess. Daneben ist eine Schieflage im Hinblick auf die Geschlechterverhältnisse festzustellen. Es ist jedoch davon auszugehen, dass der reale Frauenanteil in der Szene weit höher ist als die auf der bisherigen Datenlage errechneten zehn Prozent.
Extremistische Phänomene sind nicht statisch, sondern unterliegen einem stetigen Wandel. Veränderungen sind sowohl intern (zum
Beispiel im Kontext mit der Nachwuchsgewinnung oder durch Zersplitterung) begründet als auch durch externe Faktoren (staatliche
Repressionen, transnationale Einflüsse). Der Wandel kann Erscheinungs-, Handlungs- und Organisationsformen betreffen und geht in der
Regel mit entsprechenden Anpassungen im Milieu einher.
Durch einen Vergleich von bestimmten Eigenschaften und das Erkennen von Zusammenhängen kann eine Sozialdatenanalyse dabei helfen,
dieses Milieu für einen bestimmten Zeitpunkt aufzuklären. Wiederholt und über einen gewissen Zeitraum hinweg
durchgeführt, ist es sogar möglich, Trends herauszuarbeiten.
Hier soll nun erstmals eine entsprechende Analyse für den Salafismus in Baden-Württemberg vorgenommen werden: Wie gestaltet
sich die Szene im Jahr 2021? Dabei sind folgende Fragen von besonderem Interesse: In welcher Altersgruppe sind Salafisten am stärksten
vertreten? Bei wie vielen Personen ist eine Gewaltorientierung zu erkennen? Und: Wie groß ist der Frauenanteil?
Altersverteilung: Die Mär vom Jugendphänomen?
Das salafistische Personenpotential in Baden-Württemberg liegt im Jahr 2021 etwa bei 1.300. Bei knapp neun Prozent der hier
lebenden Akteure war das Alter nicht eindeutig zu ermitteln. Für alle anderen lassen sich folgende Aussagen treffen:
- Die meisten Milieuanhänger in Baden-Württemberg, gut ein Drittel, gehören der Alterskohorte der 30- bis 39-Jährigen an.
- Danach folgen die 20- bis 29-Jährigen mit etwa 30 Prozent Anteil.
- Ab 40 Jahren sinkt die Anzahl der Salafisten im Land mit steigendem Lebensalter.
- Die wenigsten Anhänger sind in der Kohorte der über 80-Jährigen zu finden.
- Auffällig ist, dass die Kohorte der 15- bis 19-Jährigen, weniger als ein Prozent aller Salafisten im Land ausmacht.
Die vielfach zu hörende Aussage, Salafismus sei ein Jugendphänomen, erscheint vor diesem Hintergrund zumindest für
Baden-Württemberg und das Jahr 2021 verkürzt. Zwar stellen die 15- bis 29-Jährigen insgesamt knapp ein Drittel aller
Salafisten, die überwiegende Mehrheit der Milieuanhänger ist jedoch älter als 30 Jahre.
Die Daten deuten also darauf hin, dass sich sehr viele Salafisten in einer Lebensphase befinden, die in der Regel von Familienleben und Berufspraxis dominiert wird. Bei den 30- bis 39-Jährigen kommt hinzu, dass diese „Rushhour“ des Lebens normalerweise mit einer Häufung an Entscheidungen über Beruf, Wohnort oder Partnerwahl verbunden ist. Ihnen bleibt im Alltag relativ wenig Freizeit. Diese Alterskohorte der Salafisten ist in den vergangenen Jahren stetig gewachsen.
Zugleich spiegelt sich diese Altersstruktur in den salafistischen Angeboten wider. Hier waren zuletzt vermehrt Aktivitäten
festzustellen, die sich offenbar an ein dezidiert älteres Publikum richten. Dazu zählen zum Beispiel die salafistischen
Reiseanbieter: Wer Hadsch oder Umra („große“ und „kleine“ Pilgerfahrt nach Mekka) vollziehen möchte, muss
sehr viel Geld dafür aufwenden. Den Angeboten für Ältere lassen sich auch die Online-Akademien zuordnen; für deren
Zielgruppe ist zudem ein gewisser Bildungshintergrund zu erwarten.
Sowohl die Reiseanbieter als auch die Online-Akademien stehen wiederum für die Professionalisierung der salafistischen Szene. Die
Anhänger streben danach, mit bestimmten Projekten auch Finanzmittel zu genieren und so ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.
Darüber hinaus gibt es seit einiger Zeit eine beachtliche Menge an Angeboten für Kinder. Einige Salafisten entwickeln und verkaufen Spielzeug und Lernmaterialien, andere schreiben Erziehungsratgeber. Es gibt für Kinder erstellte YouTube-Kanäle, und in den Moscheen finden Seminare für Eltern und Kinder statt.
Die Verteilung zeigt, dass das Alter bei der Radikalisierung und in Hinblick auf den Verbleib in extremistischen Strukturen eine Rolle
spielt. Radikalisierung ist im salafistischen Kontext in jedem Alter möglich. Zugleich fällt auf, dass Salafisten ab der
Lebensmitte mit steigendem Alter immer häufiger aus den Strukturen herausfallen oder zumindest weniger aktiv sind. Diesen Menschen
sind möglicherweise noch extremistische Einstellungen inhärent, sie stehen aber wegen ihres Rückzugs nicht mehr unter
Beobachtung durch den Verfassungsschutz. Die abnehmende Milieugröße in zunehmendem Alter ist möglicherweise auch im
Zusammenhang mit der Zufriedenheit von Menschen zu deuten: Diese nimmt, so haben verschiedene Studien gezeigt, ab der Lebensmitte
zu.
Strategien zwischen Missionierung und Gewalt
Innerhalb des Spektrums ist zwischen „politischem“ und „jihadistischem“ Salafismus zu differenzieren. Diese beiden Formen unterscheiden sich vor allem in der Wahl ihrer strategischen Durchsetzungsmittel: Anhänger des „politischen“ Salafismus betreiben vor allem „Da’wa“, d. h., sie missionieren vermeintlich fehlgeleitete Muslime und Nichtmuslime. Sie machen in Baden-Württemberg etwa 55 Prozent des Spektrums aus. „Jihadistische“ Salafisten setzen hingegen auf Gewalt, um ihr Ziel zu erreichen. Ihr Anteil beläuft sich auf 37 Prozent.
Daneben gibt es etwa acht Prozent Salafisten, die in einem Graubereich zwischen „politischem“ und
„jihadistischem“ Salafismus zu verorten sind: Die Schwierigkeiten bei der Zuordnung dieser Personen zu einer Kategorie werden
durch den fließenden Übergang zwischen den beiden Strömungen begünstigt. Diese Grauzone sowie die eindeutig
„jihadistischen“ Salafisten machen mit 45 Prozent fast die Hälfte des Gesamtspektrums aus. Das bedeutet, dass es in
Baden-Württemberg eine relativ große Zahl von Salafisten gibt, bei denen das Landesamt für Verfassungsschutz von einer
Gewaltaffinität ausgeht.
Berücksichtigt man für die Zuordnung zu einer Strömung zudem das Alter, so lässt sich Folgendes feststellen: Nominell sind die meisten „politischen“ Salafisten zwischen 30 und 39 Jahre alt (30 Prozent), gefolgt von der Kohorte der 20- bis 29-Jährigen. Im zahlenmäßigen Verhältnis zu den „jihadistischen“ Akteuren dominieren die „politischen“ Salafisten jedoch erst in den Alterskohorten ab 40 Jahren. Nominell sind die meisten „jihadistischen“ Salafisten ebenfalls in der Kohorte der 30- bis 39-Jährigen zu finden, auch hier gefolgt von den 20- bis 29-Jährigen. Das Alter spielt also offenbar auch eine Rolle in Hinblick auf den Grad der Radikalisierung. Deutlich wird: Ab der Lebensmitte nimmt die Anzahl der Personen mit Gewaltaffinität stärker ab als die Gesamtzahl der Salafisten.
Retrospektiv betrachtet ist diesbezüglich auch ein Abgleich mit den Daten der Syrien- und Irak-Reisenden von Interesse. Etwa 50 Personen aus Baden-Württemberg hatten sich vor einigen Jahren zu einem sehr hohen Grad radikalisiert und in Syrien dem IS oder anderen jihadistischen Gruppierungen angeschlossen. Für etwa 15 Prozent dieser Jihadisten ist kein genaues Alter für den Zeitpunkt der Ausreise zu ermitteln (das liegt unter anderem an nicht eindeutigen Angaben zum Geburtstag; es gab aber auch Fälle von Mehrfacheinreisen – manche Personen sind also zwischen Deutschland und Syrien gependelt). Für alle anderen dieser „jihadistischen“ Salafisten gilt: Zum Zeitpunkt der Ausreise war fast die Hälfte von ihnen zwischen 20 und 29 Jahre alt, etwa 23 Prozent zwischen 30 und 39 Jahre. 13 Prozent gehörten der Kohorte der 15- bis 19-Jährigen an.
Im Vergleich zu den aktuellen Sozialdaten der Jihadisten lässt sich also feststellen, dass die Ausreisenden in der Regel
jünger waren. Etwa 60 Prozent dieser Gruppe waren 15- bis 29-Jährige, während die gleichen Kohorten nur etwa 20 Prozent
aller Jihadisten in Baden-Württemberg ausmachen. Allerdings muss man berücksichtigen, dass die Ausreisen zwischen den Jahren 2013
bis 2017 erfolgten. Ein Abgleich mit den Sozialdaten für 2021 ist also nur bedingt aussagekräftig.
Geschlechterverhältnis: unsichtbare Frauen
Frauen machen mit unter zehn Prozent nur einen geringen Anteil der Salafisten in Baden-Württemberg aus. Das ausgeglichenste
Verhältnis zwischen männlichen und weiblichen Akteuren ist in der Kohorte der 15- bis 19-Jährigen anzutreffen, allerdings
müssen die 30 Prozent Frauenanteil vor dem Hintergrund der sehr geringen Gesamtgröße dieser Kohorte gesehen werden. Nominell
sind die meisten Salafistinnen zwischen 30 und 39 Jahre alt. Danach kommt die Kohorte der 20- bis 29-Jährigen. In den Alterskohorten
ab 50 spielen Frauen kaum eine Rolle. Salafistinnen, die älter als 70 Jahre sind, gibt es in Baden-Württemberg nicht.
Die meisten Frauen, 70 Prozent, sind im „politischen“ Salafismus verortet. Diejenigen, die als gewaltaffin gelten, verteilen
sich vor allem auf die beiden Kohorten der 20- bis 39-Jährigen.
Ein Abgleich mit den Daten zu den Syrien- und Irak-Reisenden offenbart, dass der Frauenanteil in diesem jihadistischen Teilphänomen
mit 25 Prozent deutlich höher lag. Die meisten Frauen, die damals nach Syrien und in den Irak gereist sind, waren zum Zeitpunkt der
Ausreise zwischen 20 und 29 Jahre alt. Diese Altersverteilung entspricht auch der Beobachtung für die Gruppe der Reisenden
insgesamt.
Hier bleibt zu fragen, warum der Anteil der Frauen unter den Syrien- und Irak-Reisenden deutlich höher ist als im gesamten
Salafismus. Diese Schieflage ist möglicherweise in dem salafistischen Rollenmodell begründet, das die Frauen an das Haus bindet.
Zwar gab es in den vergangenen Jahren immer mehr Angebote von Frauen für Frauen in der Szene, womit auch ihre Sichtbarkeit zugenommen
hat. Allerdings ist davon auszugehen, dass eine große Zahl der Salafistinnen unentdeckt ist: Sie leben ihre extremistische Islamlesart
im häuslichen Rahmen. Diese Unsichtbarkeit wurde aber zumindest mit den Jihad-Reisen nach Syrien und in den Irak aufgebrochen. Ziel
der Reisen war vielfach, an der Realisierung einer Gesellschaftsutopie mitzuwirken. Reisende Männer nahmen deshalb auch ihre Ehefrauen
mit ins Kriegsgebiet. Andere Frauen haben die Grenzen des klassischen Rollenbildes ausgedehnt, indem sie alleine nach Syrien und in den
Irak gereist sind. Diese Ausreise machte die Frauen zumindest für die Sicherheitsbehörden sichtbar.
Fazit: Die salafistische Szene zwischen Alterung und rigiden Rollenbildern
Die Sozialdatenanalyse deutet darauf hin, dass Alter ein wichtiger Faktor bei der Radikalisierung ist. Aktuell ist zu erkennen, dass ein Großteil der Salafisten im Land 30 Jahre und älter ist. Diese Altersverteilung spiegelt sich auch in den salafistischen Angeboten der vergangenen Jahre wider, die sich an ein dezidiert älteres Publikum richten.
Das Alter scheint zudem mit dem Grad der Radikalisierung zu korrelieren: So ließ sich feststellen, dass Salafisten ab der Lebensmitte eher auf „Da’wa“ als strategisches Mittel setzen als auf Gewalt. Eine Gewaltaffinität ist vor allem unter jüngeren Menschen anzutreffen. Besonders anschaulich zeigen das die Zahlen zu den Syrien- und Irak-Reisenden: Dieses Phänomen, das für einen besonders hohen Grad an Radikalisierung steht, war mehrheitlich bei den unter 29-Jährigen zu beobachten. Hier bleibt zu fragen, ob hohes Alter möglicherweise ein protektiver Faktor im Hinblick auf die Gewaltaffinität ist.
Was das Geschlechterverhältnis betrifft, ist eine Schieflage zu beobachten: Weniger als zehn Prozent der beobachteten Salafisten in
Baden-Württemberg sind weiblich. Allerdings ist davon auszugehen, dass dies nicht die tatsächlichen Verhältnisse
widerspiegelt. Entsprechend dem rigiden Frauenbild ist von einem Dunkelfeld von Frauen auszugehen, die ihre extremistische Islamlesart im
häuslichen Umfeld ausleben.