Im Extremismus bildet sich schnell eine übersteigerte Version dieser Sehnsucht heraus: Zwischenzeitlich politisch erkämpfte Rechte unter anderem für Minderheiten werden in Frage gestellt, ebenso wie gleichberechtigtere Rollenbilder oder heutige Ländergrenzen. Zudem sorgt ein hoher Grad an Wissenschaftsfeindlichkeit in diesen Szenen dafür, dass auch technische und medizinische Errungenschaften nicht nur kritisch beäugt, sondern zumeist in Form extremistisch aufgeladener Verschwörungserzählungen gegen den Staat und andere Feindbilder instrumentalisiert werden. Explizites oder implizites Ziel von Rechtsextremisten oder „Reichsbürgern“ und „Selbstverwaltern“ ist es häufig, nicht nur an gesellschaftlichen Werten festzuhalten und diese zu bewahren, sondern eine längst überholte Vergangenheit zurückzubringen.
Reaktionäre Formen von Extremismus
Rechtsextremistische Verschwörungserzählungen wie jene des „Großen Austauschs“ [1] oder des „White Genocide“ („Weißer Genozid“) [1] versuchen über dystopische Drohkulissen nicht nur Emotionen wie Angst und Wut anzusprechen, sondern letztendlich auch die Rückführung („Remigration“) von Personen zu befördern, die zum Teil deutsche Staatsbürger sind, aber von Rechtsextremisten aufgrund ihrer Migrationsgeschichte nicht als solche akzeptiert werden. Dahinter steckt unter anderem die Annahme, in Deutschland lebten heutzutage – im Gegensatz zu früher – zu viele Migranten, durch die sich die deutsche Kultur nach und nach auflöse. Die strikte räumliche Trennung von angeblich unterschiedlichen Ethnien soll die Homogenität des eigenen Volkes und ihrer Traditionen erhalten bzw. zurückbringen. In der Wahrnehmung der meisten Rechtsextremisten stellt bereits die bloße Existenz migrantisch geprägter Gruppen in der Gesellschaft eine Bedrohung der deutschen Kultur dar. Dieser Aspekt ist bei „Reichsbürgern“ und „Selbstverwaltern“ weniger ausgeprägt, der Fokus auf die deutsche (biologische) Abstammung deutet allerdings darauf hin, dass die vermeintlich „angestammte“ Bevölkerung bevorzugt wird.
Weite Teile des Milieus der „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ bekunden ihre Sehnsucht nach der Vergangenheit, indem sie sich auf das historische Deutsche Reich beziehen, insbesondere auf politischer und juristischer Ebene. Sie berufen sich auf zwischenzeitlich nicht mehr gültige Gesetze oder die damalige Reichsverfassung, um staatliche Forderungen – wie die Bezahlung von Bußgeldern – abzuwehren. Auch formal wird die Sehnsucht nach der Vergangenheit deutlich, so binden die Gruppierungen des „Reichsbürger“- und „Selbstverwalter“-Milieus oftmals historische Elemente in ihre Logos ein und verwenden altertümliche Schriftbilder und nicht mehr gebräuchliche Begriffe in ihren Schreiben. In der Regel fordern Milieuanhänger zudem, wenn auch überwiegend implizit, dass die Landesgrenzen des Deutschen Reichs wiederhergestellt werden. [2] Positive Bezüge auf das Deutsche Reich sowie die historischen Außengrenzen spielen in Teilen des Rechtsextremismus ebenfalls eine Rolle, im Milieu der „Reichsbürger“ können sie allerdings als ideologieprägend bezeichnet werden.
Verklärte Vergangenheit
Kennzeichnend für die beiden Phänomenbereiche ist nicht nur die Sehnsucht nach der Vergangenheit an sich, sondern auch die Verklärung derselben. Gesellschaftliche Probleme werden zumeist in der Gegenwart oder der Zukunft verortet. Gleichzeitig wird der angeblich desolate Zustand der heutigen Gesellschaft überzeichnet. Zahlreiche Rechtsextremisten relativieren den Holocaust und leugnen die Shoa. Einige, so scheint es, wollen die Schrecken der Vergangenheit schlichtweg nicht wahrhaben. Andere hingegen verschleiern die Vorkommnisse gezielt, um die eigenen ideologischen Positionen zu stärken.
Im Milieu der „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ lässt sich Vergleichbares feststellen: Sie verklären die Vergangenheit durch die irrige Annahme, ihr Leben zu Zeiten des historischen Deutschen Reiches wäre angenehmer gewesen – im Gegensatz zur angeblichen Gängelung durch die Behörden der heutigen Bundesrepublik. Sie blenden dabei aus, dass es natürlich auch zu Zeiten des Deutschen Reiches nicht nur Rechte, sondern auch (staatliche) Pflichten gab, denen die Menschen unterworfen waren. Zugleich waren die Freiheitsrechte des Individuums bei weitem nicht so ausgestaltet wie in der heutigen demokratisch verfassten Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik. Statt dieser Logik zu folgen, beharren Milieuangehörige unter anderem darauf, dass das Ordnungswidrigkeitengesetz, die Straßenverkehrsordnung oder das Grundgesetz insgesamt ungültig seien und eine Rückkehr zum Deutschen Reich ihre individuellen und größtenteils selbst herbeigeführten (finanziellen) Probleme löse.
Fazit – Vorbild zur Umgestaltung von Staat und Gesellschaft
Der Rechtsextremismus sowie das Milieu der „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ können als besonders reaktionäre Ausprägungen von Extremismus betrachtet werden. Sehnsüchte nach einer vermeintlich besseren Vergangenheit führen dazu, dass ihre Anhänger antisemitische und staatsfeindliche Ansichten verbreiten oder immer wieder gegen nicht von ihnen anerkannte Gesetze verstoßen. Die dystopischen Bilder, die hierbei von der Zukunft gezeichnet werden, werden einer vermeintlich glorreichen Vergangenheit gegenübergestellt. Viele Extremisten instrumentalisieren das selbst erschaffene Spannungsfeld aus Sehnsucht und Angst in ihren Verschwörungserzählungen und unternehmen den Versuch, Staat und Gesellschaft umzugestalten – und das nicht selten am Vorbild einer Vergangenheit, die es so nicht gab.
[1] Die Verschwörungserzählungen gehen davon aus, dass die Bevölkerung eines Landes zugunsten von Migranten
„ausgetauscht“ werden soll. Die Erzählung des „Großen Austauschs“ argumentiert hierbei mit der
Vermischung der kulturellen Eigenheiten der Länder zugunsten einer angeblich „fremden“ Kultur. Der „White
Genocide“ stellt eher auf das angebliche biologische Verschwinden bzw. die „Vernichtung“ von Menschen mit weißer
Hautfarbe ab. Beide Erzählungen sind extremistisch, da sie – jeweils auf ihre Weise – einen homogenen Volksbegriff
bedienen, der Menschen anderer Herkunft/Abstammung/Hautfarbe grundsätzlich ausschließt bzw. diesen die Möglichkeit
abspricht, wirklich „deutsch“ sein zu können. Insbesondere in der Erzählung des „White Genocide“ spielt
das rassistische Motiv des drohenden „Volkstodes“ eine große Rolle, das in der Erzählung des „Großen
Austauschs“ eher kaschiert wird. [zurück]
[2] Diese nicht nur im Milieu der „Reichsbürger“ verbreiteten Vorstellungen werden auch als Gebietsrevisionismus
bezeichnet. Dieser definiert sich dadurch, dass heutige Gebietsgrenzen nicht anerkannt werden. Gebietsrevisionisten ignorieren die
vertraglichen Vereinbarungen zu den deutschen Landesgrenzen nach den beiden Weltkriegen. [zurück]