Der ideologische Fokus
Der ideologische Fokus von Rechtsextremisten liegt in der Behauptung, Menschen seien grundsätzlich nicht gleichwertig. Gleichzeitig gehen Rechtsextremisten von einer eigenen Überlegenheit aus. Nationalismus, Sozialdarwinismus, Rassismus und Antisemitismus sind weitere Ausprägungen dieser Weltsicht. „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ bestreiten hingegen zuvorderst die Existenz der Bundesrepublik. Ihre Ideologie konzentriert sich – in unterschiedlichen Varianten – auf die Wiederherstellung des Deutschen Reiches oder die Gründung einer gänzlich neuen Staatsform. Sie versprechen sich hiervon praktische Vorteile. Oftmals versuchen sie auch schlicht, den rechtlichen und finanziellen Pflichten der Bundesrepublik zu entgehen oder ihr Selbstbild über bedeutsam klingende Posten („Reichskanzler“, „Minister“ etc.) zu steigern. Ungleichwertigkeit ist kein zentrales Element ihrer Weltanschauung. Auch die Vorstellung eines ethnisch homogenen und insgesamt überlegenen Volkes ist kein maßgebliches Merkmal der Ideologie von „Reichsbürgern“ und „Selbstverwaltern“.
Rechtsextremisten streben eine Staatsform an, in der das beschriebene Menschenbild und Volksverständnis verankert ist. „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ stellen im Gegensatz dazu eine alternative bürokratische Verwaltung in den Mittelpunkt: So sollen insbesondere in der Vorstellung von „Reichsbürgern“ angebliche juristische Fehler aus der Vergangenheit korrigiert werden – mit dem nicht unerheblichen Nebeneffekt, dass Szeneangehörige in führender Position an der neuen Staatsorganisation beteiligt wären.
Im Gegensatz zu „Reichsbürgern“ und „Selbstverwaltern“ erkennen Rechtsextremisten die Bundesrepublik Deutschland als Staat durchaus an, wenngleich sie in letzter Konsequenz ebenso einen Systemumsturz anstreben. Sie benötigen hierzu jedoch keine vermeintliche juristische Legitimation, von der „Reichsbürger“ üblicherweise behaupten, sie aus der Geschichte herleiten zu können.
Rechtfertigung der Anwendung von Gewalt
Die unterschiedlichen Rechtfertigungen des verfassungsfeindlichen Handelns von Rechtsextremisten und „Reichsbürgern“/„Selbstverwaltern“ zeigen sich auch im jeweiligen Verhältnis zu Gewalt: Während sich die Rechtfertigung der Gewaltanwendung durch Rechtsextremisten auf zahlreiche Feindbilder (inklusive den Staat) bezieht, die im Sinne der Ungleichwertigkeit vermeintlich (bspw. biologisch oder moralisch) unter ihnen stehen, legitimiert die Grundideologie der „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ überwiegend das Vorgehen gegen staatliche Repräsentanten. So unverständlich solche Rechtfertigungen auch sein mögen, für Extremisten sind sie notwendig, um die eigenen Hemmungen vor der körperlichen Gewaltanwendung zu überwinden.
Auch wenn die Anwendung von Gewalt von beiden extremistischen Strömungen ideologisch oftmals zur „Notwehr“ stilisiert wird, erfolgte sie von „Reichsbürgern“ und „Selbstverwaltern“ bislang überwiegend als Reaktion auf staatliche Maßnahmen, die existenziell in das Leben der Betroffenen eingriffen oder entsprechend wahrgenommen wurden, zum Beispiel Zwangsräumungen, Pfändungen oder Waffenentzug. Rechtsextremisten agieren weit weniger reaktiv, sondern gehen häufig aktiv mit Gewalt gegen ihre Feindbilder vor.
Diese fachliche Trennung zwischen Rechtsextremismus einerseits und „Reichsbürger-“ und „Selbstverwalter“-Milieu andererseits ist ausdrücklich keine Relativierung des jeweiligen Gefahrpotentials der Szenen. Sie dient vielmehr der Sensibilisierung insbesondere in Bezug auf den beschriebenen Umgang der Extremisten mit Gewalt. Dieser wiederum hat Auswirkungen auf staatliche Maßnahmen gegen die unterschiedlichen extremistischen Strömungen. Ein Verständnis der spezifischen ideologischen Grundlagen und Feindbilder ist notwendig, um sowohl präventive Maßnahmen als auch Aussteigerprogramme genau ausrichten zu können.
Es entstehen neue Mischideologien
Besorgniserregend ist, dass Rechtsextremisten, „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ sowie Akteure des Phänomenbereichs „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ sich in jüngerer Zeit zunehmend auf einen gemeinsamen Nenner beziehen: Extremistisch durchzogene Verschwörungsideologien und eine damit verbundene grundsätzliche Verachtung des Staates. Die hieraus entstehenden Mischideologien richten ihr Hauptaugenmerk auf die Überwindung des demokratischen Rechtsstaats. Ob danach nun ein autoritärer Führerstaat ausgerufen (Rechtsextremismus), das historische Deutsche Reich reaktiviert („Reichsbürger“), eine neue Staatsform etabliert („Selbstverwalter“) oder Deutschland in anderer Weise neuorganisiert werden soll, spielt zunächst eine eher untergeordnete Rolle. Die Gewalt wird anfangs auf den bestehenden Staat und seine Repräsentanten konzentriert, die der Umsetzung der unterschiedlichen ideologischen Ansätze grundsätzlich im Weg stehen. So wird unter anderem der Tod von Politikern – wie im Fall des zerschlagenen „Reichsbürger“-Netzwerks – mindestens in Kauf genommen, um das jeweilige übergeordnete Ziel zu erreichen. Auch werden zunehmend ideologische Differenzen beiseitegeschoben, die eine kollektive Organisation erschweren würden.
Diese neuen Mischideologien erhöhen die Gefahr von vorbereiteten Angriffen auf Vertreter des Staates durch Akteure unterschiedlicher extremistischer Strömungen, bei denen beispielweise die reaktionären Umgestaltungsvorstellungen der „Reichsbürger“ mit dem menschenverachtenden Weltbild von Rechtsextremisten zusammentreffen.