Anzunehmen ist, dass zumindest ein Teil der Übergriffe von Linksextremisten begangen wurde. Teilweise gab es auch Tatbekenntnisse von linksextremistischer Seite. Diese sehen Gewalt gegen „Rechte“ oder deren Objekte als legitimes Mittel im „notwendigen Kampf gegen Faschismus“ an. Bislang sind jedoch keine Täter identifiziert.
Auch in Baden-Württemberg gab es mehrere Vorfälle, die Angehörige des „rechten“ Spektrums betrafen. Zu
erwähnen ist vor allem ein Vorkommnis in Freiburg am 12. Juni 2021, das die wachsenden Spannungen zwischen
Linksextremisten und „rechten“ Personen sowie die Eskalationsdynamik zeigt: Zwei Mitglieder der „Antifa“ sollen ein
AfD-Mitglied auf der Straße erkannt und daraufhin als „Faschist“ beschimpft haben, woraufhin der Mann die beiden
Personen mit seinem Mobiltelefon gefilmt, verfolgt und schließlich mit Pfefferspray attackiert haben soll. Auf einen zufällig
vorbeikommenden Passanten, der den beiden Angegriffenen helfen wollte, stach der AfD-Angehörige mit einem Messer ein. Der Mann musste
mit leichten Verletzungen im Krankenhaus versorgt werden.
Drohungen, Propaganda, Kundgebungen
Die Reaktionen von Angehörigen des „rechten“ bzw. rechtsextremistischen Spektrums auf die Anschläge waren zahlreich. Zum Beispiel drohte Thorsten HEISE, stellvertretender Bundesvorsitzender der „Nationaldemokratischen Partei Deutschlands“ (NPD), in einem Video auf Facebook der linksextremistischen Szene, die als Urheber der Anschläge angesehen wird. Andere setzten Belohnungen für Hinweise auf die Täter aus und richteten Spendenkonten für die Opfer des „linken Terrors“ ein. Gefordert wurde zudem die Bereitschaft zum „Selbstschutz“ gegen linksextremistische Übergriffe.
Für Baden-Württemberg lässt sich daneben vor allem die Verbreitung von Propagandamaterialien feststellen. Die rechtsextremistische Partei „Der III. Weg“ verteilte Ende Mai oder Anfang Juni 2021 in Ravensburg Flugblätter zum Thema: „Linksextremismus stoppen! Kriminelle Antifa-Banden zerschlagen!“. Wenige Tage folgten Verteilaktionen in Villingen-Schwenningen, Reutlingen und Göppingen.
Darüber hinaus standen Kundgebungen des „rechten“ bzw. rechtsextremistischen Spektrums als Zeichen des Widerstands gegen „Linksterrorismus“ im Mittelpunkt. Ein Beispiel ist eine Mahnkundgebung vom 16. Mai 2021 in Stuttgart-Bad Cannstatt zum Jahrestag des Anschlags auf die Zentrum-Automobil-Aktivisten. Unter anderem nahmen daran Mitglieder der NPD, der Kleinpartei „Der III. Weg“ und der formell aufgelösten rechtsextremistischen AfD-Teilorganisation „Der Flügel“ teil.
Eine Aktion vom 7. Juni 2021 in Stuttgart ist ebenfalls in den Kontext der „Anti-Antifa-Arbeit“ einzuordnen. Rund ein Dutzend Personen, darunter die stellvertretende NPD-Landesvorsitzende Marina DJONOVIC, versammelten sich vor dem Oberlandesgericht; dort läuft derzeit das Verfahren gegen zwei Männer, die im Mai 2020 den Gewerkschafter von Zentrum Automobil e. V. lebensgefährlich verletzt haben sollen. Vor dem Gerichtsgebäude wurden Banner mit Aufschriften wie „Terrororganisation Antifa verbieten. Schluss mit der Verfolgung Andersdenkender“ hochgehalten.
Gegen „die Antifa“ wandte sich am 24. Juli 2021 auch „Der III. Weg“ in Reutlingen, wo unter dem
Motto „Für Volk & Heimat. Antifa-Terror entgegentreten“ eine Kundgebung stattfand. Außerdem gab es einen
Infostand.
Bewertung
Die unterschiedlichen Reaktionen der rechtsextremistischen Szene auf die mutmaßlich linksextremistischen Übergriffe resultieren aus dem Gefühl, im Stich gelassen zu werden: Man wirft der Polizei vor, nicht im erforderlichen Maße nach den Tätern zu suchen, gar untätig zu bleiben, und mit den Tätern unter einer Decke zu stecken. Außerdem übt die Szene Kritik an den „etablierten“ Medien: Ihnen wirft sie vor, nicht oder nur am Rande über die Anschläge zu berichten. Anders sei es, wenn der Täter von „rechts“ komme und es ein „linkes“ Opfer gebe – dann würden die Medien ausführlich darüber berichten, so der Tenor.
In den vergangenen Monaten fanden die Angriffe schwerpunktmäßig in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen statt. Die brutale Attacke auf Gewerkschafter im Mai 2020 hat sich jedoch in Stuttgart ereignet. Schon aus diesem Grund sind weitere Anschläge dieser Art in Baden-Württemberg nicht auszuschließen. Die von baden-württembergischen Linksextremisten Anfang Februar 2021 initiierte Kampagne „antifascist action! Gegen rechte Krisenlösungen“ verkündet auf ihrer Homepage „Antifa heißt mehr als Wahlkampf stören!“ und will in diesem Sinne im Wahljahr 2021 weitere Aktionen durchführen.
Die bisherigen Anschläge trafen häufig bekannte und exponierte Anlaufstellen und Treffpunkte der rechtsextremistischen Szene oder Wohnorte einzelner Rechtsextremisten. Gerade die Übergriffe auf Personen weisen auf eine neue Eskalationsstufe und zunehmende Enthemmung in Teilen der linksextremistischen Szene hin.
Gleichzeitig rüstet sich die linksextremistische Szene in Baden-Württemberg gegen zukünftige rechtsextremistische Gewalt.
So demonstrierten rund 900 Personen am
24. Juli 2021 in Freiburg unter dem Motto „Kein Angriff ohne Antwort!“. Anlass war u. a. der eingangs
beschriebene Übergriff eines AfD-Mitglieds vom 12. Juni 2021. In einem Bericht über die Kundgebung schreibt das „Offene
Antifa Treffen Freiburg“ (OATFR) auf Facebook, dass es auch in Zukunft gelte, „sich organisiert und vernetzt den Rechten
entgegenzustellen“. Bereits im Juni hatte das OATFR auf Facebook gefordert, angesichts der „zunehmenden Angriffe
unserer Gegner*innen (…) den antifaschistischen Selbstschutz weiter auszubauen“. Ähnlich wie in der
rechtsextremistischen Szene geschieht dies u. a. durch Kampfsport. So bietet auch das OATFR nach einer coronabedingten Pause seit Anfang
Juni 2021 wieder ein „Kampfsport- und Selbstverteidigungstraining“ an.
Perspektive
Möglicherweise werden rechtsextremistische Kreise das Verhalten der linksextremistischen Szene in Freiburg als Vorwand für Übergriffe auf den politischen Gegner missbrauchen. Gegenangriffe könnten symbolträchtige Objekte der linksextremistischen Szene oder Personen treffen. Gerade vor dem Hintergrund der anhaltenden Diskussion über Selbstschutz und Selbstjustiz könnten Einzelpersonen oder Kleinstgruppen entsprechende Gegenschläge planen und verüben. Auch sind z. B. spontane Gewaltaktionen bei ungeplanten Begegnungen von gewaltorientierten Angehörigen der rechts- und linksextremistischen Szenen nicht auszuschließen.
Die mutmaßlich linksextremistischen Übergriffe haben bei Rechtextremisten die Feindbilder Staat, Polizei und Presse verstärkt. Die bei ihnen vorherrschende Wahrnehmung, der Staat sei „in die Hände des Gegners gefallen“, könnte Anschläge auf Politiker provozieren. Ähnlich war es bei Stephan ERNST gewesen, der im Sommer 2019 den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke wegen dessen migrationsfreundlicher Politik ermordet hatte.
Weiterhin ist zu erwähnen, dass die Häufung von vermutlich linksextremistischen Anschlägen für Einigkeit über
alle Lager hinweg gesorgt hat: Unterschiedliche Bereiche des rechtsextremistischen Spektrums (Parteivertreter, gewaltorientierte
Einzelpersonen aus subkulturellen Strukturen, Vertreter der „Neuen Rechten“) haben sich durch die Angriffe der vergangenen
Monate nahezu als Kollektiv attackiert gefühlt. Das gemeinsame Thema „Antifa-Gewalt“ könnte daher eine
lagerübergreifende Zusammenarbeit von Rechtsextremisten zur Folge haben.